Tierreport – Offizielles Organ des Schweizer Tierschutz STS
Tierreport – Offizielles Organ des schweizer Tierschutz STS

Unschuldig zum Tode verurteilt

Unschuldig zum Tode verurteilt (©colourbox)

Unschuldig zum Tode verurteilt (©colourbox)

© colourbox Lebensfrohe neugeborene Kälber werden getötet – bloss, weil sie das «falsche»
Geschlecht haben. In der Hochleistungs-Milchviehzucht ist männlicher Nachwuchs unerwünscht und wird deshalb auch in der Schweiz zunehmend ausgemerzt.
Dem STS liegen konkrete Hinweise auf illegale Kälbertötungen vor.

Matthias Brunner

Noch ziemlich wacklig steht das Kalb auf seinen dünnen Beinchen und weicht nicht von der Seite seiner Mutter. Erst vor wenigen Minuten wurde es geboren. Nun schaut es mit grossen, weit geöffneten Augen staunend um sich und sammelt seine ersten Eindrücke. Doch es bleibt ihm keine Zeit, die Welt zu entdecken, da sein Schicksal bereits besiegelt ist. Denn es hat das «falsche» Geschlecht: es ist ein Stierkalb und deshalb unerwünscht.

Rinder sind mittlerweile auf maximale Leistung gezüchtete Nutztiere. Entweder bezweckt das Zuchtziel, dass die Kühe eine möglichst hohe Milchleistung erbringen, oder dass Mastrinder bis zur Schlachtung rasch und viel an Körpergewicht zulegen.

Turbokühe nach kurzer Zeit ausgepumpt

Deutlich zeigt sich dies am Beispiel der Rinderrasse Red Holstein: Spitzentiere erreichen teilweise über 12 000 Kilogramm Milch pro Laktation (rund 300-tägige Phase, während der die Kuh Milch produziert). Dies entspricht einer Verdopplung der Menge gegenüber dem Jahr 1991. Diese extreme Leistungssteigerung fordert einen hohen Tribut. Häufig sind solche Kühe schon nach drei bis vier Geburten dermassen ausgelaugt, dass sie geschlachtet werden.

Im Nachbarland Deutschland liegt die durchschnittliche Laktationsrate bereits bei lediglich 2,5 – in den USA sind es im Schnitt sogar nur noch zwei Laktationen. Derartige Hochleistungskühe haben ein hohes Risiko, an schmerzhaften Euterentzündungen, Stoffwechselkrankheiten oder Lahmheiten zu erkranken.

Unerwünschte «Tränkerkälber»

Die einseitige Züchtung ausschliesslich auf extrem hohe Milchleistung hat noch eine weitere Kehrseite: Männlicher Nachwuchs ist überflüssig und unrentabel, weil sich die Mast solcher «Tränkerkälber» (sie brauchen ja Milch als erste Nahrung) finanziell nicht lohnt. Sie setzen im Vergleich zu fleischbetonten Rinderrassen nicht schnell genug und in erwünschtem Masse Fleisch an und kosten damit zu viel für die Aufzucht. Was geschieht also mit den überzähligen Jungtieren?

Aus Neuseeland, Irland und Schottland ist bekannt, dass solche Kälber aufgrund ihres Geschlechts systematisch sofort nach der Geburt getötet und «entsorgt» werden. Das gleiche Verfahren, wie es in der Legehühnerzucht weltweit bereits seit fünfzig Jahren praktiziert wird. Da werden die männlichen Küken umgehend nach dem Schlüpfen aus der Eierschale aussortiert und anschliessend vergast.

In der Schweiz gilt offiziell, dass Kälber frühestens im Alter von sieben Tagen geschlachtet werden dürfen. Ein Blick in die Tierverkehrsdatenbank (TVD) zeigt eine auffällige Häufung von Totgeburten und Verendungen zwischen dem 1. und 3. Alterstag bei der Milchviehrasse Red Holstein. So stieg die Todesrate innerhalb von nur fünf Jahren um 17 Prozent und beträgt nun 7,05 Prozent der Geburten. Dieser Anteil liegt um die Hälfte höher als bei anderen Rindviehrassen.

Indizien für illegale Kälbertötungen

Wie kommt es dazu, zumal die Geburten bei ausgeprägten Milchviehrassen im Vergleich mit den Mastrinderrassen in der Regel eigentlich unproblematisch verlaufen? Diese Frage stellte Nationalrätin Isabelle Chevalley (GLP/VD) dem Bundesrat. Dieser mutmasst in seiner Antwort: «Der Bundesrat geht davon aus, dass es sich dabei vorwiegend um Notschlachtungen handelt», und konstatiert gleichzeitig: «Aus Sicht des Bundesrates sind im züchterischen Bereich keine zusätzlichen Massnahmen notwendig.»

Aber wieso Notschlachtungen, wenn es doch kaum Fehlgeburten gibt? Warum diese vergleichsweise hohe Anzahl Todesfälle? Ein ungeheuerlicher Verdacht drängt sich auf: Die Kälber werden nicht richtig versorgt, etwa mit der überlebenswichtigen Biestmilch der Mutter. Solche Jungtiere sind extrem krankheitsanfällig. Damit hätte sich das «Problem» sozusagen von selbst erledigt. Hinter vorgehaltener Hand bestätigen Tierärzte, Kälbermäster, Viehzüchter und Landwirtschaftsberater gegenüber dem STS, dass Kälber der entsprechenden Milchviehrassen oftmals nicht gut versorgt und in einem schlechten Zustand weiterverkauft würden. Eigentlich ein klarer Verstoss des Tierhalters gegen das Tierschutzgesetz.

Doch es kommt noch schlimmer: Offenbar werden auf mehreren grossen Milchviehbetrieben in der Westschweiz – im Dreieck zwischen Payerne, Moudon und Yverdon – neugeborene oder erst wenige Tage alte männliche Kälber von Red Holstein und Holsteinkühen gezielt getötet und entsorgt. «Ein Landwirtschaftsberater, der namentlich nicht genannt werden möchte, hat mir von konkreten Fällen berichtet», erzählt STS-Geschäftsführer Hansuli Huber. Ein weiterer Fall, bei dem ein Lehrling Zeuge einer Kälbertötung gewesen sein soll, wurde einem Vorstandsmitglied des STS zugetragen.

«Ein männliches Kalb ist somit oftmals nur noch ein Kollateralschaden der Milchproduktion», meint Huber als bittere Erkenntnis. Doch das ist für ihn aus ethischer Sicht nicht vertretbar. Er fordert eine Rückbesinnung bei der Rinderzucht zu «milchbetonten Zweinutzungsrassen».

«So etwas können sich nur Gesellschaften leisten, die völlig übersättigt und weit weg sind vom Denken in Kreisläufen.»

Hansuli HuberDr. sc. nat. Hansuli Huber, STS-Geschäftsführer Fachbereich Beratungsstelle für artgerechte Nutztierhaltung

Das meint der STS dazu

Es kann nicht angehen, dass lebensfrohe, frisch geborene Kälber nur aus wirtschaftlichen Gründen einfach so getötet werden. Das ist nicht nur aus tierschützerischer, sondern auch aus ethischer Sicht abzulehnen. Zumal nicht garantiert ist, dass Bauern überhaupt in der Lage sind, ein Kalb korrekt zu betäuben und zu töten. Praktiken, unerwünschte Kälber absichtlich verenden zu lassen, verstossen gegen das Tierschutzgesetz und müssen hart bestraft werden.

Das sogenannte «Spermasexing» (Geschlechtsbestimmung vor der künstlichen Befruchtung) sollte bloss als vorübergehende Massnahme angewendet werden. Längerfristig muss aus Sicht des STS das Zuchtziel weg von den Milchhochleistungskühen, hin zu Zweinutzungsrassen (Milch und Fleisch) gehen. Dabei sollen die Kühe ihr Futter hauptsächlich selbst auf der Weide suchen und mit möglichst geringem Kraftfuttereinsatz ihre Milch produzieren. Damit könnte die Schweiz auch einen Qualitätsvorteil gegenüber der industriellen Billigstmilchproduktion im Ausland erringen.

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